Trauer aus einem anderen Blickwinkel
Der Tod ist schrecklich und bringt uns aus der Fassung, daran besteht kein Zweifel. Die Trauer einheitlich als langwieriges Drama für alle Menschen darzustellen, wäre jedoch falsch. Zu diesem Schluss kommt George A. Bonanno, einer der erfahrensten modernen Trauerforscher und Professor für Klinische Psychologie an der Columbia Universität in New York, in seinem viel beachteten Werk „Die andere Seite der Trauer“. Darin stellt er zahlreiche seiner Forschungsergebnisse vor und wirft dabei einen ungewohnten, durchaus auch positiven Blick auf Trauerprozesse.
Zunächst übt er berechtigte Kritik an den gängigen Phasenmodellen zur Trauerverarbeitung. Zum Beispiel am Modell der Trauerphasen nach Elisabeth Kübler-Ross, nach dem auf die Phase des Nichtwahrhabenwollens zunächst Zorn, dann Verhandeln, Depression und schließlich Akzeptanz folgen. Hier fehlten zum einen empirische Studien, außerdem würden darin die von Kübler-Ross gesammelten Beobachtungen an Sterbenden auf Hinterbliebene übertragen. Zu Recht merkt Bonanno an, dass die Konfrontation mit dem eignen Tod sicher andere Gefühle hervorruft als der Verlust einer geliebten Person. Grundsätzlich bestehe bei den Phasenmodellen die Annahme, Trauernde müssten jede einzelne Phase durchlaufen, um in die nächste zu gelangen. Bonannos Forschungen ergaben jedoch, dass Trauer in Wellenbewegungen verläuft, bei denen die negativen Phasen mit der Zeit immer kürzer und weniger intensiv werden. Dazwischen sind auch positive und sogar fröhliche Momente möglich. Und das ist gut so, denn permanente Trauer wäre gar nicht auszuhalten.
Nach Bonannos Meinung unterliegt die Art und Intensität von Trauer generell so unterschiedlichen Einflüssen, dass eine normative Bewertung des Trauerprozesses wenig sinnvoll erscheint. So gibt es etwa sehr starke kulturelle Unterschiede, die er am Beispiel chinesischer Trauerrituale belegt (vgl. Bonanno, Seite 181 ff.). Auch ganz individuelle Faktoren wie die persönliche Einstellung zum Tod, die Vorstellung vom Jenseits oder die Beziehung zum Verstorbenen spielen eine entscheidende Rolle dabei, wie ein Mensch sich im Trauerfall fühlt und verhält. Die Umstände des Todes sind ebenfalls ausschlaggebend: So wird etwa der plötzliche, unerwartete Tod vollkommen anders wahrgenommen als das Sterben nach langem, schwerem Leiden. Im letzteren Fall ist nach Bonannos Beobachtungen bei vielen Angehörigen das Gefühl von Erleichterung vorherrschend, weil die Qual des geliebten Menschen ein Ende hat, aber auch weil die eigenen Kraftreserven erschöpft sind. Er führt auch das Argument an, dass der Tod eines Menschen oft das weitere Leben seiner Angehörigen maßgeblich verändert, und dass diese Auswirkungen langfristig durchaus positiv sein können.
Die meisten Menschen sind der Trauer gewachsen
Das wichtigste Kriterium für die Trauerverarbeitung sieht Bonanno in der Resilienz, der inneren Kraft des Menschen, die ihm bei der Überwindung von Krisen hilft. Inwieweit diese innere Kraft ausgeprägt ist, hängt von verschiedenen Faktoren ab und ist nur zum Teil genetisch bedingt. So spielt nach Bonannos Meinung Optimismus eine große Rolle dabei, wie wir mit schwierigen Situationen generell und eben auch mit dem Abschiedsschmerz im Trauerfall umgehen. Resiliente Menschen sind offenbar besser in der Lage, aus ihrer Trauer Trost zu schöpfen:
„In diesem Zusammenhang ist nicht überraschend, dass Hinterbliebene, die mit dem Tod eines Menschen fertig werden oder die Endgültigkeit eines Verlustes akzeptieren können, auch imstande sind, sich mit Erinnerungen an die betreffende Person zu trösten. Sie wissen, dass ihre Angehörigen nicht mehr leben, doch beim Reden und Nachdenken über die Verstorbenen entdecken sie, dass nicht alles verloren ist. Die Beziehung ist nicht vollständig abgebrochen. Sie können sich weiterhin gemeinsame positive Erinnerungen ins Gedächtnis rufen und sich daran erfreuen. Es ist, als wäre ein Teil der Beziehung nach wie vor intakt. Andere Hinterbliebene hingegen, die ein Verlust härter trifft, haben größere Schwierigkeiten, sich an positive Erinnerungen zu halten, als könnten sie den Verstorbenen nicht mehr wiederfinden, als würden die Erinnerungen sich ihnen entziehen. Der Trauerschmerz kann anscheinend alle Erinnerungen an das Gute blockieren.“ (Bonanno, Seite 84/85)
Für Bonanno erfüllt Trauer die Funktion, sich auf ein Leben ohne den Verstorbenen einzustellen, er bezweifelt aber nicht, dass Trauer tatsächlich ungemein wehtun kann. Natürlich erkennt er auch an, dass es bei etwa 10 bis 15 Prozent aller Todesfälle bei den Angehörigen durchaus schwierige stagnierende Trauerprozesse gibt, die die Betroffenen auch noch nach Jahren blockieren und nur durch Unterstützung von außen gelöst werden können (vgl. Bonanno, Seite 108). In den meisten Fällen jedoch wandelt sich der Schmerz des Verlustes in eine anhaltende Beziehung zum Verstorbenen und eine tröstliche Erinnerung, und das ganz ohne Mitwirkung von außen.
Für diejenigen, die mit Trauernden zu tun haben, ist vor allem wichtig, dass ein schnelles Zurückfinden in das Weiterleben oder sogar ein scheinbares Fehlen extremer Trauerreaktionen kein Zeichen für Verdrängung sein müssen, sondern einfach die Folge gesunder innerer Stärke sein können. Für Trauernde selbst zeigt Bonanno in seinem Buch an vielfältigen Beispielen, dass im Grunde jede Reaktion im Trauerfall ihre Berechtigung hat, weil es hier keine Norm gibt. Allein das kann sicher eine große Entlastung sein, wenn man Abschied nehmen muss.
Cathrin Gawlista
George A. Bonanno:
Die andere Seite der Trauer. Verlustschmerz und Trauma aus eigener Kraft überwinden. Aisthesis, 2012.
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Aisthesis Verlag